Über das Leben, das Lesen und das Schreiben

Als Autor wird man immer wieder einmal gebeten, über sich, seine Arbeit und seinen Werdegang zum Schriftsteller ein paar Zeilen zu schreiben. Rasch musste ich mir eingestehen, dass es kaum Erzählenswertes oder gar Besonderes über meine Person und ihre Existenz zu berichten gibt. Dazu habe ich herzlich wenig Ahnung, warum ich heute eigentlich Bücher schreibe und keinem anständigen Beruf nachgehe. Auf der Suche nach einer Antwort habe ich inzwischen oft in Gedanken mein bisheriges Dasein durchstreift. Fündig bin ich dabei nicht geworden. Jedoch habe ich beim Wühlen in meiner Vergangenheit eine Erkenntnis für mich gewonnen: Sowohl dem Zufall als auch der eigenen Kindheit fällt eine entscheidende Rolle zu, welche Wege und Umwege unser Dasein nimmt. Die folgende kleine Sammlung biographischer Episoden und Anekdoten handelt davon. – Wer Lust hat, kann sie hier lesen und darf sie gerne teilen und an anderer Stelle verwenden.

Patrick Hertweck

Das alte Haus

Wir waren 10. Das Dorf war unsere ganze Welt. Die Sommerferien erschienen endlos. Früh am Morgen huschten wir aus unserem Elternhaus. Meist kamen wir erst vor kurz dem Dunkelwerden nach Hause zurück, schmutzig und müde wie nach einer Dschungeldurchquerung. Wir verabredeten uns mit Klassenkameraden zum Fußballspiel auf dem Bolzplatz neben der Festhalle, rasten mit unseren Drahteseln den Mount Sandweier hinunter, verbrachten ganze Tage am Baggersee oder trieben uns an dem schmalen, gewundenen Fluss und den Wäldern hinter der Dorfgrenze herum.
Timo hieß mein bester Freund. Wir liebten Gruselhörspiele voller Vampire und Untoten und Groschenhefte über einen Geisterjäger, die wir in dem einzigen Kiosk weit und breit von unserem Taschengeld erwarben. Uns verband die Faszination für alles Unheimliche und Morbide. Darum musste es uns magisch anziehen, kaum hatten wir es entdeckt: das uralte, verrammelte und seit Jahrzehnten verlassene Haus unweit der Wohnung, in der ich mit meinen Eltern und meiner Schwester lebte.
Ein paar Straßen von uns entfernt gab es damals, das war Anfang der 80er Jahre, eine stillgelegte Schreinerei. Eines Morgens kam uns die Idee, einmal über den Zaun zu klettern, und uns auf dem einsamen, von Unkraut überwucherten Gelände umzusehen. Da sahen wir es, das gedrungene, windschiefe, hinter der Halle versteckte Fachwerkhaus vor einer rückwärtigen Mauer und den hochaufragenden Tannen dahinter.
Langsam und bedächtig näherten wir uns ihm, schlenderten zur Rückseite und hockten uns dann auf die Stufen vor der Hintertür.
Es war ein heißer Tag. Ich erinnere mich noch, wie wir unter dem gleißenden Sonnenlicht in verblichenen Zeitschriften blätterten, die dort herumlagen, ehe wir es wagten, durch das milchige Glas der Tür ins Innere des Hauses zu spähen. Voller Staunen blickten wir in eine Küche, die aussah, als wäre sie eben erst verlassen worden. Auf den Regalen standen Einmachgläser, auf den Ablagen Kannen, Schüsseln und ein hölzerner Brotkasten und auf dem Tisch eine Tasse und ein Teller. Voller Neugierde drückte einer von uns die Türklinke. Vergebens. Der Eingang war natürlich verschlossen. Also gingen wir zurück zur Vorderseite. Auch die Tür dort war verriegelt. Schulterzuckend wandten wir uns ab und betraten den Holzschuppen, der sich linker Hand anschloss. Staunend standen wir vor einem Pferdefuhrwerk, den Geruch in unseren Nasen, der von dem feuchten Lehmboden aufstieg und welchen das brüchige Leder des Zaumzeuges an den Wandhaken verströmte. Eine Weile saßen wir auf dem Kutschbock und stellten uns vor, mit dem von angespannten Pferden gezogenen Wagen durch unser Dorf zu zuckeln. Nach einer Weile blickte mich Timo an und brachte die Sprache auf die unausgesprochene Sache, die schon die ganze Zeit über unseren Köpfen geschwebt hatte.
„Wir müssen irgendwie reinkommen!“
„Aber wie?“, fragte ich und sah ihm an, dass er bereits eine Idee hatte. Als er sie mir unterbreitet hatte, hielt ich sie für völlig verrückt (eigentlich hat sich meine Meinung bis heute dazu nicht geändert.) Und zwar unterbreitete mir Timo folgendes, während er mit einer Hand zu der Hausmauer deutete, an welcher der Schuppen lehnte.
„Wir machen ein Loch. Und zwar dort“, sagte er und ignorierte danach stoisch alle meine Einwände, die zugegeben eher halbherzig waren, denn auch ich wollte unbedingt dieses Haus betreten und mir fiel beileibe keine vielversprechendere Möglichkeit ein als Timos irrwitziger Vorschlag.
So kam es, dass wir uns am nächsten Morgen, mit Hammer und Sägen aus den Werkzeugschränken unserer Väter bewaffnet, erneut in dem Schuppen wiederfanden und begannen, eine ausreichend große Öffnung für unsere Körper in die Hauswand zu schlagen.
Wir gingen dabei behutsam und möglichst leise vor, damit bloß kein Bewohner der umliegenden Häuser etwas von unserem Treiben mitbekam und womöglich nach der Polizei rief. So kamen wir nur langsam voran. Aber nach einer Woche etwa hatten wir so viel Lehm und Strohgeflecht aus der Wand gelöst, dass wir durch das entstandene Loch hindurchkriechen konnten. Da es hinter diesem stockfinster war, mussten wir uns mit Taschenlampen bewaffnen, ehe wir es wagten, wie zwei Höhlenforscher in die unbekannte Welt dahinter zu schlüpfen.
Zu unserer Überraschung landeten wir in einem winzigen, gedrungenen Raum, zu niedrig als dass wir darin aufrecht hätten stehen konnten. Dann fand das Licht einer Taschenlampe eine kleine Tür. Als wir diese aufstießen und in den helleren Bereich dahinter traten, erkannten wir, wo wir zuvor gelandet waren. Wir hatten unseren Eingang in das Gemäuer ausgerechnet an der Stelle gegraben, wo sich der der Verschlag unter der Holztreppe befand. Und nun standen wir im Flur des Hauses und blickten uns um.
Neben uns führte die Treppe in den oberen Stock, rechts ein dunkler Flur zur Küche. Vor uns lag ein Wohnzimmer, wie wir dank des Sonnenlichts erkennen konnten, das durch die Lamellen der jenseitigen Fensterläden drang. Ehe wir damit begannen, das Innere des Hauses genau zu inspizieren, sah ich noch einmal in die versteckte Kammer unter der Treppe.
Da fiel mein Blick auf etwas, das direkt neben dem Loch zum Schuppen auf dem Dielenboden lag. Noch einmal ging ich gebückt zurück, um nachzusehen, was es war.
Trotz der dicken Staubschicht, unter der es lag, erkannte ich, dass es ein Buch war.
Wie lange mochte es schon da liegen? Warum lag es dort? Hatte vor langer Zeit jemand – vielleicht ein Kind wie wir – in dem Kabuff im Schein einer Kerze darin gelesen und es dann vergessen? Von was handelte es und wer war sein Autor?
Mit zitternden Händen nahm ich es auf. Im selben Augenblick zerbröselte das alte Papier zwischen meinen Fingern. Das Buch zerfiel vor mir sprichwörtlich zu Staub und zugleich befiel mich eine heftige Enttäuschung, die noch heute – Jahrzehnte nach diesem Augenblick – in mir nachhallt.
Mit pochendem Herzen folgte ich darauf meinem Freund durch die nach Alter und Feuchtigkeit riechende Düsternis. Auf leisen Sohlen tappten wir zunächst in die Küche und blickten zuerst mit einem gewissen Stolz durch das Glas der Hintertür auf die Stufen, auf denen wir kürzlich gesessen und in den alten Magazinen geblättert hatten. Ungläubig betrachteten wir danach die Tasse auf dem Tisch, in welcher sich eine undefinierbare, braune und wie erkaltete Lava erstarrte Masse befand. Nun wussten wir, was mit einer Tasse voller Kaffee oder Tee passierte, wenn man sie viele Jahre auf einem Küchentisch stehen ließ und dem Gang der Zeit überließ.
Anschließend traten wir wieder in den düsteren Flur hinaus und gingen zum Wohnzimmer. Lange stöberten wir in den Briefen und Zeitungen, die auf dem Teppich herumlagen. Wir setzten uns auf die rote Couch und betrachteten die Heiligenbilder an den Wänden. Auf knarrenden Stufen erklommen wir das erste Stockwerk und streiften durch die Zimmer, die ebenfalls alle noch eingerichtet waren, als hätten die ehemaligen Bewohner ihr Zuhause eines Tages Hals über Kopf verlassen.
Aus unerfindlichen Gründen ließen wir ein Zimmer jedoch aus. Es lag im ersten Stockwerk am Ende eines dunklen, engen Schlauchs, der an einer geschlossenen Tür endete. Uns schien es, als würde von dort aus ein kalter Windhauch zu uns wehen, der uns frösteln ließ.
Also erklommen wir lieber eine weitere Treppe, mehr eine morsche Leiter, die uns schließlich auf den Dachboden führte. Wir wussten auf der Stelle, wir hatten unseren künftiger Lieblingsort gefunden, wo wir über die Geschichten in den Groschenheften oder die neuesten Vorabendserien diskutieren und dabei unsere Fantasie auf Reisen schicken würden. Durch die Dachluke fluteten Sonnenstrahlen in den Raum, an dessen Rändern lagerten Holzkisten und alte Möbel, am Dachgebälk hingen zum Trocknen aufgehängte Maiskolben und in die Ecken schmiegten sich verlassene Hornissennester. Es duftete himmlisch nach altem Holz und trockenem Stroh. Plötzlich fühlten wir uns ganz weit weg von der jetzigen Welt, deren Geräusche nur schwach zu uns und dem verwunschenen Ort vordrangen.
Von diesem Tag an gingen wir an beinahe jeden Tag der Sommerferien in das Haus. Wir nahmen die Briefe und Zeitungen aus dem Wohnzimmer mit auf den Dachboden und lasen uns gegenseitig Nachrichten vor, die irgendwann einmal in einer entfernten Gegenwart von Bedeutung waren. Auch weihten wir uns gegenseitig in die privaten und persönlichen Zeilen ein, von Menschen erdacht und geschrieben, die nun schon lange tot und vergessen waren. Und wir entdeckten kleine Kostbarkeiten. Auf einem Schrank etwa ein Amulett an einer verrosteten Halskette oder Holzspielzeug von Kindern, die einst in diesen Mauern gelebt haben mussten.
Es gab nur einen Raum, in den wir uns aus unerfindlichen Gründen weiterhin nicht trauten. Das Zimmer hinter der geschlossenen Tür am Ende des dunklen Flurs, aus dem diese eigenartige Kälte zu strömen schien, als wolle uns Jemand oder Etwas warnen, der Tür ja nicht zu nahe zu kommen. Doch wir waren 10 Jahre alt. In diesem Alter gibt die Neugierde niemals Ruhe und bringt einen um den Schlaf. Unsere Furcht vor diesem Raum war gewaltig, aber unsere Neugierde ungleich größer.
Also schimpften Timo und ich uns gegenseitig Angsthasen und stachelten uns auf diese Weise so lange auf, bis wir genügend trotzigen Mut gesammelt hatten, das letzte Geheimnis des Hauses zu erkunden. Hand in Hand, Schritt um Schritt, gingen wir auf die Tür zu. Ich war es, der die Klinke nach unten drückte und die Tür aufstieß, denn wir hatten zuvor geknobelt, wem diese Aufgabe zufallen sollte. Vor uns tat sich ein kleines Zimmer auf, in dem nichts weiter stand als ein Bett. Auf dessen Matratze lag eine dicke, vergilbte Daunendecke.
Zögernd traten wir in das Zimmer, gingen näher auf die Bettstatt zu und erschauderten gleichzeitig wie unter einem Guss Eiswasser. Im diffusen Licht starrten wir entsetzt auf einen nackten Fuß, die unter der Decke hervorlugte. Beide schrien wir um die Wette, dann nahmen wir die Beine in die Hand und stürzten raus aus dem Finstern des Hauses, zurück in die Wirklichkeit, die Sonne und das Leben jenseits der Umzäunung.
Tage verstrichen, bis wir das erste Mal über unsere „Entdeckung“ sprachen. Es sollten noch ein paar weitere Tage verrinnen, ehe wir wieder ausreichend Mut gesammelt hatten, erneut hinein zu gehen. Wir mussten uns überzeugen, dass wir einem Irrtum aufgesessen waren und uns unsere Fantasie einen Streich gespielt hatte. Ich weiß nicht mehr, wie wir es schafften, noch einmal in das Zimmer zu gehen und einen weiteren Blick auf das schreckliche Bett zu werfen.
Als wir schließlich davorstanden, war der Fuß immer noch da. Doch da wir nun tapfer dem Drang fortzulaufen widerstanden, erkannten wir, dass jener nicht echt war. Todesmutig warfen wir die Bettdecke zur Seite und stierten auf eine Beinprothese, die auf dem modrigen Laken lag.
Das Haus büßte für uns seine Anziehungskraft danach nicht ein. Es gehörte irgendwie zu uns und unserer Freundschaft. Jedoch gingen wir nun seltener hin. Nach dem Fund in dem Zimmer hatten wir mit einem Mal das Gefühl, etwas Ungehöriges zu tun und eine verbotene Grenze überschritten zu haben. Wir kamen uns plötzlich wie Eindringlinge vor, die ungefragt im Besitz und privaten Dingen unbekannter Menschen herumstöberten. Irgendwie spielte es keine Rolle, dass diese nicht mehr lebten und sich über unser Tun empören konnten, denn in gewisser Weise war das Haus noch von ihrer Gegenwart erfüllt, als wäre durch ihre lange Anwesenheit ein Teil von Ihnen in diesem Gemäuer zurückgeblieben.
Schließlich zog der Herbst ein. Ohne das Licht und die Wärme des Sommers wurde das Innere des Hauses immer abweisender und unheimlicher. Über den Winter machten wir einen weiten Bogen um das Gelände, um ja nicht auf dumme Ideen zu kommen und seine Geister in ihrer Winterruhe zu stören. Als aber das Frühjahr anbrach, machten wir uns eines Tages ganz selbstverständlich wieder auf den Weg dorthin. Es zog uns hinauf zum Dachboden, diesem zeitentrückten und stillen Raum, der uns allein gehörte.
Erschüttert standen wir vor einem großen Bagger, der begonnen hatte, die Schreinerei und die Lagerhalle abzureißen. Ungeschützt vor neugierigen Blicken stand unser Haus nun am Rande des Grundstücks. Wir wussten, bald schon würde es das gleiche Schicksal wie die anderen Gebäude ereilen. Wir waren noch Kinder und doch ahnten wir, dass niemand sein Alter achten und sich um die vielen privaten Gegenstände seiner ehemaligen Bewohner scheren würde. Und so kam es dann auch. Timo und ich schauten tags darauf durch Ritzen in dem Zaun zu, als man das Fachwerkhaus samt Schuppen einfach niederriss, alles platt walzte und sämtliche Erinnerungen an die Menschen, die hier ihr Leben verbracht und beendet hatten, unter dem Schutt begrub.
Während wir zusahen, wie das Haus für immer verschwand, um Platz für viereckig moderne Wohnhäuser mit großen Fenstern zu machen, verwandelte sich unsere Erschütterung in Trauer, die ich auch heute noch – genauso wie die Enttäuschung über das ungelöste Rätsel des Buches in der Kammer unter der Treppe – verspüre, immer wenn ich an das alte Haus denke. Und das tue ich auch heute noch erstaunlich oft und mit den Jahren immer mehr.
Wie wir also mit feuchten Augen an dem Lattenzaun standen, gesellte sich plötzlich eine alte Frau zu uns, die in einem ähnlichen Fachwerkhäuschen dieser Straße wohnte.
„Ihr seid doch die beiden Buben, die sich hier auf dem Gelände immer herumgetrieben haben“, sagte sie und zwinkerte uns zu. „Ihr seid auch im Haus von den Kratzers gewesen, nicht wahr?“, fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Denn zugleich begann sie von der Familie zu erzählen, der das Haus einst gehörte.
Also erfuhren Timo und ich von der Witwe Irmgard Kratzer, die ihren Mann durch einen Unfall beim Baumschlagen und ihren einzigen Sohn im Krieg verloren hatte und schließlich durch eine schwere Erkrankung auch noch ein Bein. Eines Tages, Ende der 1940er Jahre, war sie nicht mehr in der Kirche erschienen. Deshalb hatte man nach ihr gesehen. Sie lag tot in ihrem Bett. Ihr Leichnam wurde hinausgetragen und die Tür hinter der Toten wieder geschlossen. Die Prothese blieb in ihrem Bett zurück. Weil es keine Erben gab, wurde ihr Heim verriegelt und für viele Jahre vergessen.
Timo und ich waren vermutlich die ersten, die nach über 30 Jahren das Haus betreten hatten. Leider sind im Laufe der Zeit die wenigen Dinge, die ich aus dem Haus mitgenommen hatte, verschollen. Aber einen Fund habe ich immer noch. Es ist eine Zeitung, die ich aus dem Wohnzimmer mitgenommen hatte, wo sie auf einem Schränkchen gelegen hatte, mit einem roten Samtband umwickelt. Ich habe nie herausgefunden, warum sie für die ehemaligen Bewohner von Bedeutung gewesen ist. Sie ist datiert am 14. November 1924. Sie ist das einzige, was von dem alten Haus unserer Kindheit die Zeit überdauert hat. Ich halte sie in Ehren.
Oft habe ich mich in den letzten Jahren gefragt, warum alle Geschichten, die ich schreibe, in einer fernen Vergangenheit spielen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf eine Antwort weiß. Jedoch habe ich das deutliche Gefühl, dass einer der Gründe in diesem Sommer Anfang der 80er Jahre zu finden ist, als ich mich durch ein Loch in einer Wand gezwängt habe und eine Art Zeitreise erlebte, weil ich mich darauf an einem in seiner Vergangenheit gefangenen Ort wiederfand.
Timos und meine Wege trennten sich übrigens kein Jahr darauf, weil meine Eltern wegzogen. Später, in unserer Jugend, begegneten wir uns insgesamt zwei Mal. Auf einer Party und dann auf einem Konzert. Wir wechselten ein paar Worte, aber fühlten uns einander merkwürdig fremd. Vor fünf Jahren begab ich mich, einem Impuls folgend, im Internet auf die Suche nach dem Freund aus Kindertagen und wurde fündig. Ich rief an seiner Arbeitsstelle in Frankfurt am Main an. Wir verabredeten uns und vereinbarten unser Dorf als Treffpunkt, wo seine Eltern noch heute lebten. Dann suchten wir gemeinsam die Orte unserer Kindheit auf. Dieses Mal fühlten wir uns so verbunden, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren. Lange unterhielten wir uns am Abend über den Sommer, als wir zehn waren. Die meiste Zeit sprachen wir über das alte Haus und tauschten unsere Erinnerungen aus. Am Ende zog ich aus meiner Tasche eine Überraschung, die ich für unser Treffen mitgenommen hatte.

Eine Geschichte von einem Schwein und seinem Namen

Ich weiß nicht warum, aber ich erzähle gerne Geschichten, in denen der Zufall eine Rolle spielt. Weil ich sie so sehr liebe? Oder verhält es sich in Wahrheit nicht eher so, dass sie mich zutiefst ängstigen und das Erzählen in lockerer Runde eine seltene Gelegenheit bietet, sich diesem unsichtbaren Dirigenten unseres Lebens zu stellen? Wie auch immer. Ganz gleich ob aus Liebe oder Furcht oder beidem heute möchte ich die für mich außergewöhnlichste Geschichte über einen Zufall zum Besten geben. Ich war dabei, als sie sich zugetragen hat. Genaugenommen sind es zwei Geschichten, die ich erzählen möchte. Am Ende werden sie aufeinandertreffen und sich auf diese Weise zu einer verbinden. Soviel vorweg: Jede der folgenden Begebenheiten ist im Grunde völlig uninteressant. Aber ihr Zusammentreffen, das hat es in sich. Versprochen!

Die erste Geschichte ereignet sich im Jahr 1994 während der Fußball-WM in den USA. Meine Eltern wollen nach Jahren mal wieder in den Urlaub. Sie wandern gerne und reisen deshalb mit ihrem Belgischen Schäferhund ins Allgäu. Dort machen sie eine lange Tour, die sie auch am Alpsee vorbeiführt. An einem Gasthof machen sie Rast, der von einem Einheimischen und seiner thailändischen Ehefrau geführt wird. Das Mitbringsel der Wirtsfrau aus ihrer Heimat ins deutsche Bergenland weckt das Interesse meiner Eltern. Denn als diese eben ihren Durst mit einem kühlen Weizen stillen, wackelt plötzlich schwanzwedelnd ein Hängebauchschwein heran, setzt sich vor die Bank und lässt sich vom nervösen Knurren des Elterlichen Hundes dabei nicht stören. Man kann es nicht anders ausdrücken: Bei meiner Mutter war es Liebe auf den ersten Blick. Als das Schwein dann auch das ausgiebige Knuddeln meiner Mutter genoss, war es vollends um sie geschehen.
Wieder zuhause angekommen, hat meine Mama also sofort gefahndet, wo man so ein süßes (wohlgemerkt: lebendiges!) Schweinchen herbekommt. Fündig wurde sie schließlich im Vergnügungspark Trippsdrill, wo diese Tiere zu den Attraktionen gehören. Dort erstanden meine Eltern also ihr Schweinebaby. Mein Vater war anfangs skeptisch, kannte er diese Tiere bislang doch eher in zerlegter Form auf seinem Teller. Aber es dauerte keine vier Wochen, da hatte er den neuen Mitbewohner mindestens ebenso wie seinen Hund ins Herz geschlossen und seither bis zum heutigen Tag hat er kein Fleisch mehr angerührt.
An dieser Stelle sollte man erwähnen, dass das Schwein meiner Eltern den eher schweineuntypischen Namen Steffi bekam? Warum? Ganz einfach: Das Schwein, das meine Eltern am Alpsee kennenlernen durften und welches meine Mutter zur Anschaffung einer eigenen Sau inspirierte, hatte Steffi geheißen. Und darum sollte dieses Geschöpf auch Namenspatin für das neue Haustier meiner Eltern sein.
Von nun an lebte unsere Steffi also am Rand der gerade einmal 100 Einwohner zählenden elsässischen Gemeinde Chalet du Lac, wo meine Eltern ein Holzhaus samt großem Grundstück besitzen. Das Familienschwein erwartete dort also ein behütetes Dasein fern von jedem Metzger mit gewetztem Messer, gemeinsam mit einem Hund und zwei Katzen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, Steffi fühlte sich zeitlebens in ihrer neuen Familie sauwohl.

An dieser Stelle komme ich nun zur zweiten Geschichte. Sie spielt im Sommer 1998, also etwa vier Jahre nach der Begegnung meiner Eltern mit einem zutraulichen Hängebauchschwein im Allgäu. Mein bester Freund Sascha und ich machen Urlaub auf Teneriffa und erkunden mit unseren Mountain Bikes die Insel. Nach zwei herrlichen Wochen ist es an der Zeit, wieder abzureisen. Darum lungern wir auf dem Parkplatz vor dem Flughafen Nord herum und warten auf unseren Flug. In einiger Entfernung sonnt sich eine großgewachsene, blonde junge Frau, Sonnenbrille auf der Nase, zerzaustes Haar, einen ziemlichen Sonnenbrand auf den Schultern. Irgendwann schlendert sie zu uns rüber und fragt, ob wir kurz auf ihren Koffer aufpassen könnten, sie müsse mal kurz für kleine Mädchen. Klar! Machen wir. Als sie zurückkommt, hockt sie sich kurzerhand zu uns und wir kommen ins Plaudern. Unsere neue Bekanntschaft heißt Stefanie und war eigentlich auf Lanzarote im Urlaub. Leider hat sie bei der Abschiedsfeier zu tief ins Glas geschaut, den Wecker nicht gehört und ihren Flieger verpasst. Darum musste sie mit der Fähre nach Teneriffa, um von hier aus einen Flug nach Deutschland zu bekommen. Wie es der Zufall will, stellt sich heraus, dass sie im gleichen Flieger wie wir nach Nürnberg sitzen wird. Stefanie und wir sind uns so sympathisch, dass wir im Flugzeug sogar die Plätze mit anderen Passagieren tauschen, damit wir nebeneinander sitzen können. Wieder zurück in Deutschland tauschen wir auch unsere Adressen aus und versprechen uns einen gegenseitigen Besuch.
Um ehrlich zu sein, habe ich auf einigen Urlauben schon solche Versprechen gegeben oder bekommen. Doch kaum wieder im Alltag war das vergessen und es kam nie dazu. – Doch dieses Mal kam es anders.
Stefanie meldet sich kurz darauf tatsächlich bei uns an. Es ist immer noch Sommer und ich bin gerade bei meinen Eltern zu Besuch, um ihnen beim Anlegen des Gartenteichs behilflich zu sein. Sascha bietet sich an, Stefanie vom Bahnhof in Baden-Baden abzuholen. Später wollen wir uns in der Stadt treffen. Doch mein Fiat Panda will ums Verrecken nicht anspringen und meine Eltern sind nicht da, um mich zu fahren. Darum sitze ich im Elsass fest.
„Kein Problem“, sagt Sascha am Telefon. „Dann komme ich mit Stefanie einfach zu Dir ins Chalet du Lac“.
Gesagt, getan. Eine Stunde darauf fährt Sascha also mit einer jungen Frau im Auto bei meinen Eltern vor, die wir zufällig tausende Kilometer entfernt auf einer Insel im Atlantik kennengellernt haben, weil diese ihren Flieger auf Gran Canaria verpasst hatte und wir vor dem Flughafen auf den gleichen Flieger nach Deutschland zurück warteten. Außerdem treffen wir hier nur deshalb aufeinander, weil mein Auto ausgerechnet heute seinen Dienst verweigert. So steht unsere Urlaubsbekanntschaft nun also vor dem Haus meiner Eltern am Rande eines winzigen Dorfes kurz hinter der Französischen Grenze und meint „Hübsch hier. So anders.“
Ich nicke und führe meine Gäste durch das Holztor auf das Grundstück. Prompt werden wir auch schon von einem bellenden Hund und einem grunzenden Schwein begrüßt.
Stefanie tätschelt dem Hund über den Kopf und wendet sich dann unserem Hängebauchschwein zu.
„Ihr habt ein Schwein?“, fragte sie, obgleich sie die Antwort vor Augen hat.
„Ja, das ist übrigens Steffi“, sage ich und da fällt mir erst auf, dass Schwein und junge Frau sich einen Namen teilen.
„Warum heißen eigentlich alle Hängebauchschweine so wie ich?“, murmelt unser Gast plötzlich missmutig vor sich hin.
Und ich frage: „Wieso?“
Darauf erzählt Stefanie folgendes: Um sich das Studentin zu finanzieren, arbeitet sie des Sommers immer in einem Gasthof am Alpsee, der von ihrem Onkel, ein waschechter Allgäuer, und dessen thailändischer Frau geführt wird. Das Ehepaar ist kinderlos und behandelt Stefanie beinahe wie eine eigene Tochter. Und so kam es, dass das Hängebauchschwein, das sie sich vor ein paar Jahren angeschafft haben, ihr zu Ehren mit dem Namen Steffi getauft wurde.
Mir hat es nach ihrer Erzählung erst einmal den Atem verschlagen. Dann stelle ich noch ein paar gezielte Fragen, um sicherzugehen. Als kein Zweifel mehr besteht, klopfe ich Stefanie auf die Schulter und sage: „Ich gratuliere! Du wirst es mir zwar nicht glauben, aber wenn man es genau betrachtet, bist du über einen kleinen Umweg auch für den Name dieses Schweinchens hier Pate gestanden.“

Vom Zufall und dem Schreiben

Mich faszinieren Geschichten über den Zufall. Meine liebste handelt übrigens vom Hängebauchschwein Steffi meiner Eltern und wie wir über unfassbare Umwege irgendwann erfuhren, wie das Tier zu seinem Namen kam. Aber diese Geschichte werde ich an anderer Stelle erzählen. Darum soll sie hier keine Rolle spielen.
Vielleicht hat mich eine erste altersbedingte Marotte befallen, denn seit ich die 40 überschritten habe, mache ich mir regelmäßig Gedanken, wie der Zufall – manche nennen es Schicksal – immer wieder mein Leben in neue unerwartete Bahnen gelenkt hat. 2004 etwa. Hätte ich mich damals nach einer Kette von Zufällen nicht zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt in einer fremden, von meinem Heimatort weit entfernten Stadt aufgehalten, so wäre mir niemals die junge Frau begegnet, mit der ich heute über zehn Jahre verheiratet bin. Es gäbe – ein schrecklicher Gedanke – folglich auch nicht die drei Rabauken, die allmorgendlich unsere Wohnung und ihre Umwelt mit prallem Leben erfüllen. Meine Frau würde heute vermutlich irgendwo mit irgendeinem anderen Kerl ihr Leben teilen. Und ich? Das mag ich mir gar nicht ausmalen und ich halte mich bei der Vorstellung, wie dünn das Eis ist, auf dem wir wandeln, automatisch wie an einem Rettungsanker an dem Gedanken fest, dass auch das Leben all der anderen Menschen niemals ganz planbar ist, denn der Zufall – oder meinetwegen das Schicksal – kann jedem von uns auch an der unscheinbarsten Ecke auflauern. – Oder ist es nicht vielmehr so, dass er ständig seine Finger im Spiel hat, bei allen Entscheidungen, die wir fällen, weil sie darüber entscheiden, was uns vor die Augen kommt und wem wir begegnen werden?
Seit dem 13. Juli 2015 darf ich mich Autor schimpfen, denn an diesem Tag wurde mein Debütroman „Maggie und die Stadt der Diebe“ bei Thienemann-Esslinger veröffentlicht. Mittlerweile habe ich rund 60 Lesungen hinter mir, habe dank meiner Geschichte viele Menschen kennenlernen dürfen und neue Freundschaften geschlossen. Im November 2016 bin ich auf Einladung des Goethe-Instituts sogar nach Mexiko gereist, um an einem unwirklich fernen Ort mein Buch vorzustellen. Wenn ich auf diese spannende und ereignisreiche Zeit zurückblicke, dann staune ich. Aber ich erschaudere auch, denn ich bin der festen Überzeugung, dass es in allererster Linie zwei zufälligen Funden zum genau richtigen Zeitpunkt in meinem Dasein zu verdanken ist, dass ich heute schreibe und eine Tätigkeit als Beruf habe, die mich erfüllt.

Der erste Zufall ereignete sich in einem Sommer Anfang der 80er Jahre. Ich muss damals 10 oder 11 gewesen sein. Ich sah damals viel fern, liebte drei ???- und Gruselhörspiele, aber ich las kaum, obwohl ich als asthmatisches Kind weit mehr Zeit in meinem Zimmer verbrachte als auf dem Bolzplatz oder im Wald. Ich konnte mir damals bei bestem Willen nicht vorstellen, dass auf den Seiten voller Buchstaben zwischen zwei Buchdeckeln irgendetwas Spannendes verborgen lag. Erst in jenem Sommer wurde ich eines Besseren belehrt.
An einem sterbenslangweiligen Nachmittag während der Sommerferien, als sämtliche Freunde im Urlaub waren, in den drei einzigen TV-Programmen nichts Interessantes lief und auch kein neues Hörspiel auf mich wartete, griff ich mir aus purer Verzweiflung dann doch einmal wahllos irgendein Buch aus dem Regal. (Hinweis an die jüngeren Leser an dieser Stelle: es gab damals weder Internet, noch Soziale Netzwerke, keine Streaming-Dienste und auch die Computerspiele steckten noch in den Kinderschuhen).
Heute weiß ich, dass die Geschichte, die ich seiner Zeit zu lesen begann, schon damals sehr alt war und ihr Schöpfer schon lange nicht mehr unter uns weilt. Und doch griff dieser Text schon nach wenigen Zeilen auf magische Weise nach mir und zog mich unwiderstehlich in eine fremde Welt, in der ein kleiner Junge eine alte Karte findet, von schrecklichen Piraten gejagt wird und gemeinsam mit seinen Kameraden auf einer Südseeinsel nach einem sagenumwobenen Schatz sucht. Da erlebte ich das erste Mal das „Wunder des Lesens“, denn ich verbrachte die nächsten Stunden in einer vergangenen Zeit an einem weit entfernten Ort, obgleich ich doch weiter in meinem Zimmer herumlungerte, vor dessen Fenster ein wolkenverhangener Tag verstrich. Als ich mit einem Anflug von Trauer – weil Geschichten nun einmal ein Ende haben müssen – das Buch zuschlug, war er geboren, mein Wunsch fürs Leben. Eines Tages wollte auch ich ein Buch schreiben und auf diese Weise eine Welt, wie sie mir gefällt, für immer zwischen eben diese beiden sprichwörtlichen Buchdeckel bannen, die immer parat steht, um von einem Leser wie mir betreten und erkundet zu werden.
Der zweite Zufall ereignete sich ziemlich genau 30 Jahre später. Ich war inzwischen 40 Jahre alt geworden. Ein unstetes Leben lag hinter mir. Ein Dutzend Kuraufenthalte wegen meines Asthmas in der Vorjugendzeit, ebenso viele Umzüge, ein abgebrochenes Studium, meine Radreisen an weit entfernten Orten auf der ergebnislosen Suche nach mir selbst, die vielen Aushilfsjobs und auch die unerwartete, etwa zehn Jahre währende „Karriere“ in einem Medienunternehmen ab Mitte der 90er. Auch meine ersten und einzigen Schreibversuche lagen Jahrzehnte zurück. Selbst meine Liebe zum Lesen war mir über die Zeit zuerst verlorengegangen und dann in Vergessenheit geraten. Vier Jahre zuvor war unser erster Sohn geboren worden, meine Frau hatte ihr Studium beendet. Weil ihr an der Uniklinik Leipzig eine Stelle angeboten worden war, zog unsere kleine Familie aus dem Süden Deutschlands dorthin. Deshalb gab ich notgedrungen meinen Job auf und fand mich von heute auf morgen in der Rolle als Hausmann wieder – und wusste nach einem stressigen Berufsleben nichts mit der freien Zeit anzufangen. Da erinnerte ich mich eines Morgens wieder an meinen Kindheitstraum und fing an zu schreiben – einfach so und ohne Plan. Beinahe auf der Stelle geschah etwas Ähnliches wie vor einer halben Ewigkeit, als ich als Kind Stevensons „Schatzinsel“ las. Ich spürte, ich tat etwas, was mir Spaß machte und mich in einen ungewohnten Zustand innerer Ruhe versetzte. Deshalb blieb ich dran, obwohl ich rasch merkte, dass noch viel Arbeit vor mir lag, wollte ich etwas zu Papier bringen, was mir selbst gefiel und damit vielleicht auch anderen.
Und so näherte ich mich, ohne es zu wissen, allmählich dem zweiten – dem entscheidenden – Zufall, der mein weiteres Leben in eine unerwartete Richtung lenken sollte. Nach zwei Jahren waren wir eben erst aus Leipzig nach Freiburg umgezogen, ich schrieb regelmäßig, aber ohne rechten Glauben daran, dass daraus mehr würde als ein Hobby. Darum wollte ich endlich etwas tun, um unsere Familienkasse aufzubessern. Also nahm ich den erstbesten und lausig bezahlten Job als Brötchenlieferant im Freiburger Umland an. Genau in dieser Zeit geschah Folgendes: Auf dem Rückweg vom Kindergarten, wohin ich unsere (mittlerweile) zwei Jungs unter der Woche brachte, blieb ich eines Morgens vor der Auslage eines Antiquariats stehen, ein Durcheinander alter Bücher mit wasserfleckigen Seiten in Obstkartons auf Holzböcken. Beim zufälligen Angeln in den Kisten zog ich ein schmales Büchlein aus dem Durcheinander. Ich las die Inhaltsangabe und es stellte sich heraus, ich hielt eine Chronologie über das New Yorker Bandenwesen in Händen, erstmals erschienen 1927. Ich las an Ort und Stelle die erste Seite, dann die zweite und die dritte, gefangen von der Welt, die dort beschrieben wurde. Eine Welt, in der die Menschen wie Ölsardinen in Baracken und Mietskasernen lebten und New Yorker Gangs das Sagen hatten. Eine Welt voller Drei-Cent-Spelunken, Bierhallen, Spielhöllen, lichtlosen Gassen, abweisenden Elendsquartieren, einem Netz unterirdischer Gänge und Abwasserkanäle, mit Flusshäfen, verlassenen Lagerhallen, künstlichen Buchten und einem endlosen Wald aus unzähligen Masten, Takelagen und dickstämmigen Schloten entlang der Küstenlinie. Eine Welt, deren lebensfeindliche Atmosphäre jede Menge skurriler Individuen hervorgebracht hatte. Mir war auf der Stelle klar, vor mir hatte ich das ideale Setting für einen bunten, actionreichen und fesselnden Abenteuerroman. Natürlich erwarb ich das Buch und las es zuhause mit wachsender Faszination. Und als ich dann darin auch noch auf die mysteriöse Lebensgeschichte eines Albert W. Hicks stieß, dem letzten in den USA zum Tode verurteilten Piraten, wusste ich, dieser wird Dreh- und Angelpunkt eines Buches werden, das ich unter allen Umständen schreiben werde. Koste es, was es wolle.
Der Rest ist rasch erzählt: Ich machte mich an die Recherche, entwickelte den Plot, verfasste das Exposé, schrieb die ersten 25 Seiten des Manuskripts, gab meiner Geschichte den Arbeitstitel „Satans Circus“ und schickte die Dokumente einem Agenten. Nur wenige Wochen darauf – ausgerechnet einen Tag nach der Geburt unseres dritten Sohnes -, kam die Nachricht ins Haus geflattert, dass ein Verlag Interesse an meinem Stoff habe und er binnen drei Monaten das fertige Buch erwartet. Knapp ein Dreivierteljahr später stand „Maggie und die Stadt der Diebe“ in die Buchläden.
Ohne den zufälligen Fund vor dem Heinrich Heine Antiquariat in der Turmstraße in Freiburg an jenem nebligen Frühjahrsmorgen wäre ich heute gewisse kein Autor. Ich würde immer noch Brötchen ins Freiburger Umland ausfahren, wäre nie in Mexiko gewesen und hätte niemals die Erfahrung gemacht, wie schön es sein kann, vor jungen und nicht mehr ganz jungen Leserinnen und Lesern von seiner Geschichte zu erzählen und der längst untergegangenen Welt, in der sie spielt. Das ist meine Überzeugung. Aber vielleicht irre ich auch. Gewiss ist jedoch, das Abenteuer von Maggie, Goblin, Tom, Silence und den anderen 40 Little Thieves wäre ohne diesen Zufall niemals geschrieben worden.
Vier Jahre nach der Veröffentlichung liegt eine literarische Durststrecke hinter mir. All das Neue und die aufregenden Erlebnisse waren auch eine Herausforderung für mich. Ich musste erst wieder meine „stille Ecke“ finden, die ich brauche, um kreativ zu sein. Kaum hatte ich diese gefunden…
… schlug der Zufall wieder zu und griff mir tatkräftig unter die Arme. Er ereilte mich in der Form einer hartnäckigen Bronchitis, die mich schließlich in das Wartezimmer meines Hausarztes führte. Weil ich die offene Sprechstunde besuchte, war es brechend voll und alle Zeitschriften in Beschlag, die ich normalerweise lese. Also musste ich mit einem Reisemagazin Vorlieb nehmen und begann, lustlos darin herumzublättern. Und dann passierte es. In einem Artikel über die Westküste der USA wurde erwähnt, dass man bei Bauarbeiten im Finanzdistrikt der Stadt immer wieder auf Schiffswracks stoße, den Überresten der sogenannten Armada of Golden Dreams. Ich hatte davon noch nie gehört und doch wusste ich auf der Stelle, vor mir liegt der rote Faden, der mich zur Geschichte für mein zweites Buch führen wird.
Seit dem 14. Februar 2020 ist es quasi amtlich, dass ich damals mit meiner Überzeugung goldrichtig lag, denn an diesem Tag ist „Tara und Tahnee – Verloren im Tal des Goldes“ erschienen. Die Geschichte zweier Mädchen, die nichts voneinander wissen, deren Schicksale jedoch eng miteinander verknüpft sind. Ihr Abenteuer spielt 1856 an der Westküste der USA und erlebt sein Finale in der Stadt am Golden Gate, vor deren Küste seinerzeit noch die Armada of Golden Dreams vor Anker lag.

 

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